Europas Markenkiller: Die Plattform-Ökonomie

Wie die großen Markenkulturen konsequent vergehen

Die wirklich systemverändernden Revolutionen geschehen nicht mit dem einen großen Knall. Im Gegenteil: Systemverändernde Revolutionen nagen an bestehenden Mustern und Gewohnheiten, Tag für Tag, untergraben, durchlöchern nicht sichtbar Fundamente. Bis hin zu dem Moment an dem ein Symbol der „alten Ordnung“ scheinbar ganz plötzlich zusammenbricht. Öffentlichkeitswirksam. Blaupunkt, Nordmende, Loewe, Dresdner Bank, Horten, Quelle … Sie alle und viele mehr sind nur noch – wenn überhaupt – Labels, Namen ohne existenten Rückgriff auf die reale Leistungsgeschichte. 

Seit gut 15 Jahren prognostiziert die Wissenschaft das Ende der Warenmärkte wie wir sie kennen. Keine Frage: Die Ladenzeilen der Städte werden immer leerer. Der „Kleine Laden“ in der Nachbarschaft ist schon zur Sehenswürdigkeit für die zugezogenen Kreisstadt-Hipster in der großen Metropole geworden: „Schau mal, das ist noch ein richtig alter Laden … mit `ner richtig alten Verkäuferin ´drin.“

Analoger Einzelhandel wird zum Einkaufserlebnis, weil das Einkaufen selbst keinen Mehrwert mehr bietet. In Hinblick auf die Veränderung der Einkaufskultur sind sich Wissenschaftler, Führungskräfte und Kunden einig: ECommerce sells! In Deutschland 1999 bis 2019 explodierte der Wert des Online-Handels von 1,1 Milliarden Euro auf 57,8 Milliarden Euro. Das mag man beweinen, das mag man sozialpolitisch kritisieren, aber der „Click around the clock“ führt zu ungebremstem Wirtschaftswachstum und hat längst die Diskussion um Öffnungszeiten obsolet gemacht. 

Eine Marke ist eine Marke – analog wie digital

Vor einem strategischen Hintergrund wird die Frage entscheidend, wie sich Unternehmen im Angesicht  dieser unumkehrbaren Markt-Disruption verhalten. Durchaus verbreitet ist der in Europa beliebte Ansatz „abzuwarten“ mit der Prämisse, seine Kundschaft zu erziehen: Die Kraft der Marke wird es schon richten. Gut zehn Jahre haben europäische Markenartikler und Einzelhändler die Auswirkungen des E-Business eben deshalb ignoriert und nicht begriffen, dass auch dieser Vertriebskanal ein “normaler” Bestandteil der Marke ist. 

Europa spielte bei der Initiierung und Entwicklung digitaler Vertriebskanäle keine Rolle, ganz im Gegensatz zu Amerika und Asien. An der Oberfläche mag dies ein strategisches Versäumnis gewesen sein, aber die strukturellen Auswirkungen sind viel fundamentaler.

Amerika und Asien, die eigentlichen Treiber der Digitalisierung, kennen keine ausgeprägten Markenkulturen, sondern nur wenige Superbrands, die alleiniges Anziehungspotential besitzen und keiner Plattformen bedürfen. Europa dagegen kennzeichnet in Kernländern wie Deutschland, Italien oder Frankreich einen starken Mittelstand mit hochspezialisierten Unternehmen, die zwar in ihren Märkten erfolgreich sind, aber nicht den Anspruch erheben „übergreifend“ bekannt zu sein. In der Folge traf ein hochwirksamer, aber vereinheitlichender Vertriebskanal auf Firmen-Material, welches seine Kraft aus der Differenzierung bezog.

Fluch und Segen der Plattform-Ökonomie

Inzwischen wird deutlich, dass der Online-Vertrieb eben nicht einfach ein Online-Vertrieb ist, sondern – ganz im Sinne des Akkumulationsgesetzes – sich jedes Jahr stärker auf ausgegliederten Plattformen abspielt: Egal ob Check24, Autoscout24, Immobilienscout, Lieferando, Amazon oder booking.com – der Anteil der Vertriebsplattformen wächst kontinuierlich und beständig. Beispielsweise entfallen 26% aller gebuchten Übernachtungen in Europa auf die Online-Plattformen booking.com. Dabei entfällt wiederrum ein Großteil der Plattform-Buchungen auf einen bzw. zwei Anbieter (Booking.com mit ca. 66% und Expedia.com bereits weit abgeschlagen mit 17%). Dieses Bild ließe sich auf nahezu jede Branche anwenden. 

Ruinöse Abverkäufe

Der Vertrieb über Online-Plattformen ist keine Frage des „Ob“, sondern fast nur noch des „Wieviels“. Gerne wird das Argument vorgebracht, die Plattform sei ein bequemer Weg der Marktdurchdringung: Preise lassen sich unmittelbar „anpassen“ (das heißt im Normalfall reduzieren) und damit die Sichtbarkeit erhöhen. Im Gegenzug verdienen die Plattform über die auskömmlichen Verkaufs-Provisionen und Anzeigen ihrer Zulieferer – ohne selbst irgendwelche Formen des realen Risikos und der Verantwortung einzugehen (ein Grundsatz des Unternehmers). 

Bei näherer Betrachtung ist dieser Zustand ärgerlich, aber in Wirklichkeit führt die Rolle der Plattformen zu marktstrategischen Verwerfungen: Denn Plattformen sind in ihrer Struktur darauf ausgelegt, eine Preisspirale nach unten zu systematisieren. Ihr grundlegender Algorithmus intendiert, das beste Angebot zum billigsten Preis prominent in Szene zu setzen. Warum? Ganz simpel: Weil es sich am schnellsten verkauft. Da aber immer mehr Unternehmen die Plattform situativ nutzen, um Überhänge oder Kapazitäten in den Markt zu drücken, sinkt das durchschnittliche Preisniveau stetig und in aller Regel sofort.

Früher nannte man dieses Verhalten „Ware versenken“ mit dem Unterschied, dass die Wahrscheinlichkeit, dass alle Kunden von einem besonderen Angebot in einem fernen Discounter erfuhren, relativ gering war. Die Kundschaft lernt die immer niedrigere Preiskultur im Internet allerdings dauerhaft und allumfassend. Kein Unternehmen ist kurzfristig in der Lage, die „gefühlt richtigen“ Preisen erneut in eine gesunde Relation zu rücken. Die Anbieter hoffen auf die ungerichtete Unterstützung (Marktmacht) der Plattformen, so dass sich der Kunde für ihre Angebote entscheidet. Dieses Hoffen ist sehr teuer (bis ruinös) für den eigentlichen Leistungserbringer. Hoffen und Abwarten ist zudem das Gegenteil von Unternehmertun…

Der entscheidende Treiber der Plattform ist also die Aufmerksamkeit über den Preis. Einen Aspekt muss die gute Plattform daher vehement ausschließen: Die Kraft einer Marke in den Fokus zu rücken. Im Gegenteil: Jede Plattform muss eine Leistung zu einer Commodity, zu einem Allerweltsprodukt, zu einem Niemand machen. Denn wenn der Zweck der Plattform das günstigste Angebot ist (neben anderen, aber viel unwichtigeren Faktoren), dann ist der traditionelle Sinn und Zweck sowie Existenzgrund einer Marke, sich dem Preiskampf und dem Wettbewerb zu entziehen, indem sie ihre Preiskultur durchsetzt. Es besteht demnach ein struktureller Zielkonflikt, der allerdings von vor allem europäischen Unternehmen mit ihrer traditionell verankerten Markenstärke bespielt wird. Nur wer wer ist, will nicht Niemand sein. 

Beurteilungen der Kunden werden zum Druckmittel der Plattformen gegenüber den Unternehmen

Klar ist: Die heutigen Plattformen erschaffen keinen Wert; sie schöpfen ihn nur ab. Den Plattformen ist es gelungen, sich als diejenigen zu verkaufen, die viel Nutzen für wenig Geld anbieten, ohne selbst irgendeine der angebotenen Leistungen zu erbringen. Der Kunde fragt nicht danach, wie der Nutzwert zu ihm kommt; ihn interessiert nur und durchaus nachvollziehbar, dass er den Nutzwert (möglichst billig) erhält. Dass schließlich die Beurteilungen der Kunden dafür eingesetzt werden, den Leistungserbringer im Sinne immer höherer Erwartungshaltungen zu erziehen, da die schlechte Beurteilung automatisch zu einem schlechteren Ranking führt (das so manches Mal wieder als Anzeige erkauft werden muss), macht die schlaue Konzeption der Plattformen umso deutlicher. 

Wirtschaft als Wettbewerb der Vorurteile

Die einzige Möglichkeit dem Automatismus der „digitalen Angebotsschütte“ zu entgehen, bleibt allerdings die spezifischen Erwartungsmuster einer Marke zu betonen und zu verfestigen. Auch und gerade im Internet. Dies gelingt allerdings nur, wenn die Marke sich nicht versucht über eine imageorientierte, d.h. oberflächliche Differenzierung zu positionieren, sondern Leistungen liefert, der die kulturell verankerten Gewohnheitsmuster weiter verstärken. Die entscheidende Leistung bleibt in Zeiten des „Überall gleich“, der „Globalisierung“ und des „Standards“ vor allem die Herkunft. Sie ist die treibende und übergreifend funktionierende Kraft aller Warenmärkte. Herkunft ist nicht kopierbar – sie bezieht sich weiterhin auf einen realen Ort, den wir mit seinen vemeintlichen Vor- und Nachteilen zu kennen scheinen. 

Nie waren Vorurteile so wertvoll wie in Zeiten des unendlichen digitalen Angebotes. 

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