Marken gehören der Kundschaft

Oft verschmäht und dennoch millionenfach gekauft, gibt es keine Gesellschaften ohne Marken. Ausgerechnet Karl Marx war einer der ersten, der sich mit dem mysteriösen Charakter von markierten Produkten beschäftigte und beileibe nicht der letzte. Eine markensoziologische Beschreibung eines kulturübergreifenden Phänomens aus Sicht eines Markenexperten.

Ein vertracktes Ding – Die Marke als soziales Bündnissystem

Marken haben bei aufgeklärten Menschen keine gute Presse: Obgleich sie uns wunderbar gepflegte Haut, perfekte Fahrfreude oder einfach eine delikate Pizza versprechen, wehrt sich der rationale „Verbraucher“ kräftig gegen die Diktatur der Wirtschaftsunternehmen, die nicht davor halt machen bereits auf dem Schulhof nach ihren Opfern zu suchen. Die kanadische Physikerin und Philosophin Ursula Franklin wird mit dem schrägen Satz zitiert: „Wir sind ebenso besetzt wie die Franzosen oder Norweger von den Nazis im 2. Weltkrieg besetzt waren, jedoch sind es jetzt ganze Armeen von Marketingspezialisten.“ Naomi Klein wurde vor einem Jahrzehnt mit ihrem akkurat recherchierten Buch „No Logo“ Ikone der Konsumverweigerer, globale Vortragsreisende und Buchmillionärin. Die sorgsam von der Politik und den ihnen angeschlossenen Verbrauchergruppen kultivierten Vorstellungen, dass der Mensch ein „homo oeconomicus“ sei, der bedächtig abwägt und vergleicht und schließlich eine rationale Kaufentscheidung fällen würde, widerspricht der praktischen Lebenserfahrung: Auf deutschen Straßen fahren hunderttausende riesenhafte SUVs (Absatzzahlen steigend) mit dem Benzinverbrauch von Hubschraubern (obwohl man mit einem Fahrzeug der Marke Lada ebenso von A nach B käme), wir pflegen unsere Haut mit Produkten „aus der blauen Dose“ und verlangen nach einem „Tempo“, obwohl sie dreimal so viel kosten wie die ebenso wirkungsvollen, aber unbekannten „weißen“ Produkte. Die Lebenswirklichkeit beweist, dass der Mensch der Postmoderne nicht nur verbraucht, vielmehr sucht er gezielt aus und entscheidet sich massenhaft trotz aller logischen Argumente für eine teurere Markenware und freut sich (natürlich verborgen), wenn er bei der Geburtstagsfeier im Familienkreis eher das allseits bekannte Premiumprodukt, statt der „Eigenmarke“ auf dem festlich gedeckten Tisch stehen hat. Das mag auch heute noch von progressiven Mahnern angeprangert und von engagierten Pädagogen als verachtenswerte Indoktrination gegeißelt werden, aber an der Tatsache, dass Marken immer weitere Felder des Alltages einnehmen ändert es nichts. Ein Nerv wird getroffen. Es geht um ein soziales Faktum, welches sich lohnt emotionslos zu analysieren.

Marke ist ein Energiesystem
Wie Marken funktionieren. Büro für Markenentwicklung, 2016

Nicht nur im Alltag wird viel vom „Markenterror“ lamentiert, auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Marken und Werbung ist so alt wie die moderne Massenware selbst: Der Soziologe Werner Sombart schrieb 1908, dass Markenwerbung „in schamloser Weise die hässlichen Vorgänge der Bedarfsdeckung ans Licht zerrt und womöglich in Schönheit tauchen möchte.“ Massenwirksam wurde die Kritik an der Massenware Ende der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als der amerikanische Publizist Vance Packard die Begriffe Marke, Werbung und Manipulation miteinander verknüpfte. 1960 schrieb Raymond Williams in seinem Standardwerk „The magic system“, dass Werbung eine Schlüsselrolle für das kapitalistische System einnehme und den Menschen konditioniere. Wolfgang Haug deckte in seiner tragend-deutschen Analyse „Kritik der Warenästhetik“ marxistisch gekonnt – im kryptischen Duktus der 1970er Jahre – auf, wie es zum Aufstieg von Marke und Werbung kommen konnte.

Selbst der Sozialismus brauchte Marken

Das Thema Marke fasziniert und interessiert – kaum noch ein Parteivorsitzender, Vorstand oder auch Prälat, der nicht vom Markenkern seiner Partei, seines Unternehmens oder seiner Kirche spricht – und dabei vollkommen ernsthaft bleibt. Und selbst ein sozialistisches Projekt wie die DDR kam nicht ohne Marken aus und erschuf Leistungssysteme, die als Dr. Quendt, f6, Kathi, Nudossi oder Teigwaren aus Riesa ihr Herkunftsland bis heute überdauern und so wenigstens auf dem Abendbrottisch ein Gefühl von Heimat vermitteln. Im Gegensatz zu einer gewinnorientierten Marktwirtschaft stand getreu der marxistischen Gesellschaftstheorie das Diktum des „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ im Vordergrund. Aufwändiges Styling oder Werbung galt als Synonym für kapitalistische Methoden und als unsinniger Kostenfaktor (auch wenn es mit den „tausend teletips“ (ttt) von 1959 bis 1976 eine eigene zeitweise geradezu avantgardistische Werbesendung gab) und dennoch: Selbst aus der simplen Verpackung und Benennung konstruierte die DDR-Bevölkerung eigene Marken. Wer einmal die Stimmung im Rahmen der Ostpro-Messe in Berlin, Erfurt oder Dresden erlebt hat, weiß: Marken sind Kulturkörper.

Marke spielt in allen Gesellschaften und seit dem Beginn von Warenmärkten eine bedeutende Rolle – und wird um so wichtiger, wenn sich traditionelle Gruppenzugehörigkeiten wie Familie, Religion oder Schichtzugehörigkeit zunehmend auflösen. Je mehr Globalisierung desto wichtiger scheint der Ort (auch wenn weltgewandte Manager nicht müde werden, exakt das Gegenteil zu propagieren). Denn Orte sind nicht nur an Geografie gebunden, sondern können sich im Sinne von Memen, also kollektiven Erinnerungsorten an Dingen festmachen: Der besondere Kaffee aus Italien, den man im Urlaub entdeckt hat, der Lieblingsjoghurt aus der Kindheit, das Piratenschiff, dass nun den eigenen Kindern in die Badewanne gereicht wird. Mit bestimmten Dingen verknüpfen Menschen Erfahrungen und Erlebnisse. Joseph von Eichendorff, der nicht unbedingt als Marketingprofi bekannt ist, schrieb: „Schläft ein Lied in allen Dingen.“ Richtig. Marken sind bewusst oder unbewusst ein gelebtes und manchmal geliebtes Stück Alltagskultur und damit ein sozialer Sachverhalt, den das Wort „Gewohnheit“ zusammenfasst. Gewohnheiten sind das „Wohnzimmer der Seele“, umso wichtiger, dass dort alles ordentlich und überschaubar ist, wenn die Welt sich ständig neu erfindet und manchmal auch zusammenbricht.

Marx, Marke und Metaphysik

Die Marke als scheinbarer Gegenstand der Ökonomie wird erst dann verständlich, wenn man versucht ihre massenwirksamen Dynamiken mit einem „soziologischen Werkzeugkasten“ zu verstehen. Marke ist nämlich ein soziales Phänomen, das ökonomische Auswirkungen hat – und nicht umgekehrt. Ob wir es wollen oder nicht: Der Mensch komponiert unaufhörlich aus den ihn umgebenden Subjekten bestimmte Interpretationen und Gefühlswelten. Alles Konsumterror? Angesichts der heutigen vielfältigen Marketing- und Werbeliteratur scheint ein Schmunzeln erlaubt, wenn deutlich wird, das sich ein Wissenschaftler sehr frühzeitig mit dem Wesen der Marke beschäftigte, der im Grunde alles dafür unternahm, um eben diese Marken zu überwinden: Karl Marx. Im vierten Abschnitt seines Buches über das Kapital schreibt er 1866: „Ein Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist, voller metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr, ob ich sie nun unter dem Gesichtspunkt, dass sie durch ihre Eigenschaften menschliche Bedürfnisse befriedigt oder diese Eigenschaften erst als Produkt menschlicher Arbeit erhält.“ Ein Tischler, der einen Tisch fertigt, mag aus Holzleisten einen Gebrauchsgegenstand hergestellt haben, aber erst sein Verkauf gibt dem Tisch ein anderes Wesen: „Sobald er nämlich als Ware auftritt, verwandelt er sich nämlich in ein sinnlich, übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen anderen Waren gegenüber auf den Kopf, und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.“ Geradezu hilflos beschreibt Marx das Wesen des modernen Produktes, welches nicht nur den Bedarf befriedigt, sondern sich als Ware verändert, indem es einen Subjektcharakter annimmt. Mit dieser Analyse tritt Marx als ein ausgesprochener Marketing-Theoretiker auf, denn ernstzunehmende Experten werden heute kaum etwas anderes behaupten, wenn es um das Thema Marke geht. In einer Zeit, in der sämtliche Entscheidungen nicht mehr gefällt werden, weil ein Unternehmer daran „glaubt“, sondern weil er ein Manager Verkaufs- und Marktforschungszahlen ausgewertet hat, ist die Marke eine der letzten Unbekannten. Geht es um die Marke, werden nicht nur engagierte Eltern und selbsternannte Verbraucherschützer emotional, sondern auch vollkommen rational auftretende Firmenlenker. Marke, so ist immer wieder zu hören, sei Emotion, Lifestyle und Wertigkeit – und diese Eigenschaften seien nun einmal viel schwerer zu messen als betriebswirtschaftliche Kennziffern. Bedeutet dies, das zwar Mercedes eine Marke sein kann, aber nicht ALDI? Um diese Frage zu beantworten, muss geklärt werden, wie und warum sich Marken entwickelt haben und was Marken strukturell betrachtet eigentlich sind.

2000 Jahre Werbung

Geschichtlich betrachtet sind Marken alt: In Pompeji finden sich Bemalungen an Häuserwänden, die wortreich zu Besuchen nahegelegener Weinstuben einladen. Historiker stellen fest, dass römische Tonkrüge der Antike den Aufdruck „sine cera“ – ohne Wachs trugen. Ein Leistungsbeweis, der den Kunden deutlich machte, dass dieser Hersteller nur Krüge allererste Güte herstellte und etwaige Risse im Gefäß nicht mit Wachs kaschierte – eines der ersten Markenzeichen. Im Mittelalter prägten die Handwerkszünfte ihr Siegel auf die hergestellten Waren, um auch außerhalb eines räumlich eng begrenzten Herstellungsortes, die „Zünftigkeit“, also die nach besten Handwerksbrauch gefertigten Waren zu belobigen. Und in der frühen Neuzeit wiesen Handwerker mit sog. „trade cards“ auf ihre besonderen Leistungen mit Bild und Text hin. Als Massenphänomen sind Marken in Deutschland eng mit der Industrialisierung und der Gewährung der Gewerbefreiheit zu Beginn des 19. Jahrhunderts verknüpft: Mit der zunehmenden Verstädterung kam es auf der einen Seite zu einer immer größeren Distanz zwischen Herstellern einer Ware und ihren Käufern und auf der anderen Seite erlaubte die Konzentration potentieller Käufer in einem räumlich überschaubaren Gebiet eine in die Zukunft gerichtete Produktion. Marken waren in einer Welt in denen die meisten Käufer keinerlei Verbindung zum Lieferanten ihrer Milch, ihres Brotes oder ihrer Zahnbürste hatten, ein Mittel, um dennoch Kenntnis und eine zu erwartende Leistung unter einem bestimmten Namen öffentlich zu verankern. In einem anonym werdenden Markt, galt es Vertrauensvorschüsse zu sichern. Werbung und Gestaltung kam die Aufgabe zu, möglichst umfassend Informationen zu verbreiten und durch die Wiederkennung Vertrauen aufzubauen. Die Marke präsentiert demnach mit Hilfe der Werbung ein – hoffentlich – verlässliches Angebot. Der Siegeszug der Marke und der Werbung waren also Aspekte, die sich gegenseitig bedingt haben. Je mehr Unbekanntes, desto mehr kommunikative Orchestrierung um das Fremde vertraut und damit vertrauensvoll zu machen. Oder wie es ein Sprichwort sagt: Vertrauen hat man immer nur in Vertrautes.

Als einer der Pioniere in Sachen Markenbildung in Deutschland gilt heute der Erfinder und Geschäftsführer des Mundwassers Odol, Karl August Lingner. 1893 startete der Unternehmer eine massive Werbekampagne, die die Markenartikelwerbung in Deutschland begründete – so sehr, dass die Marke auch noch heute noch bekannt ist auch wenn ihre Werbepräsenz massiv zurückging. Dass der Siegeszug des Markenartikels mit einem Mundwasser startete, bleibt im geschichtlichen Rückblick nur konsequent: Die ersten werblichen Bemühungen traten im 16. Jahrhundert an den Rändern des Wirtschaftssystem auf: Aufgrund der zünftischen Reglementierungen durfte nur für Produkte geworben werden, die keinerlei Verordnungen unterlagen, so weitestgehend dubiose Heil- und Arzneimittel und ausgerechnet Bücher. Am Stigma, dass Werbung etwas unredliches ist, änderten globale Werbeausgaben, welche die Höhe vieler nationaler Bruttinlandsprodukte überstiegen, relativ wenig.

Die kurze geschichtliche Herleitung offenbart die Struktur von Marken. Vor einem markensoziologischen Fokus sind markierte Produkte zunächst ein System, dem es gelingt, bestimmte Leistungsprognosen zu verkörpern. Dabei ist es egal wie groß oder wirtschaftlich bedeutsam ein Unternehmen ist. Markensoziologisch ist es unerheblich ob es sich um ein multinationales Unternehmen oder um eine Döner-Bude handelt, sofern Menschen mit einem Namen gleichgerichtetes Wissen verbinden und durch die Einlösung der Erwartungen im besten Falle sogar Vertrauen.

Ein „guter Name“ ist entstanden.

Der Grandseigneur der deutschen Soziologie Niklas Luhmann bezeichnete Vertrauen als einen Zustand in dem wir uns in gewissen Grundzügen schon auskennen, schon informiert sind, wenn auch nicht vollständig. Indem wir eben dieses Wissen besitzen, wird der Komplexitätsgrad der Umwelt reduziert. Plötzlich ergeben sich in die Zukunft gerichtete Handlungsoptionen. Marke sendet als „kondensierter Sinn“ klare Botschaften aus. Marke ist ein verpflichtender Leistungsanspruch. Man stelle sich den Gang in den Supermarkt ohne vertrauensvolles Vorwissen vor: Man wäre verdurstet bevor man sich auch nur für die adäquate Milch entschieden hätte … Einem Mercedes schaut man nur noch pro forma unter die Motorhaube und bei einem Danone-Joghurt kann man nahezu sicher davon ausgehen, dass kein Formaldehyd darin zu finden ist.

Um so vernichtender, wenn ein Unternehmen eben genau dieses Vor-Vertrauen missbraucht – dann kommt es zur „Vertrauenskrise“, weil die erwarteten Leistungen eben nicht erbracht wurden. Che Guevara brachte diesen Zusammenhang als Industrieminister Kubas folgendermaßen in Worte: „Qualität ist der Respekt vor dem Volk.“ Einer Marke wie ALDI gelingt es, dieses „öffentliche Vertrauen“ idealtypisch zu bespielen: Der Lebensmitteldiscounter kommt niemals auf die Idee seine Beilagen als Werbung zu bezeichnen – oben rechts steht deutlich geschrieben: ALDI informiert. Wenn ein Produkt nicht den selbstauferlegten Standards genügt oder nur als „befriedigend“ von einem externen Institut bewertet wurde, so wird die Ware umgehend entfernt. Dann folgt kein Kaschieren, kein „hoffentlich merkt es keiner“ … die Lücke wird im Regal belassen und ein Schildchen aufgehängt auf dem unmissverständlich geschrieben steht, dass dieses Produkt den eigenen Erwartungen nicht mehr entspräche. Das Unternehmen sichert auf diese Weise seinen guten Ruf, auch wenn es kurzfristig zu Nachteilen führt.

Kinderschaukeln und gleichzeitig E-Mails checken

Der Soziologe Hartmut Rosa macht in seiner Arbeit zur „Beschleunigung“ klar, dass ein entscheidender Imperativ der kapitalistischen Ethik sei, die Zeit so intensiv wie möglich zu nutzen. Diese „Grunderfahrung der Moderne“ präge eine umfassende Rast- und Ruhelosigkeit – die Angst ständig etwas zu verpassen, so dass das „gute Leben“ an einem vorbeizieht. Obwohl uns immer mehr helfende Maschinen im Alltag begleiten (Mikrowellen, Waschmaschinen, Autos usw.) haben wir dennoch das umgreifende Gefühl, immer weniger Zeit zu haben. Rosa führt aus, dass die freigewordene Zeit in der Moderne nicht „sinnlos“ vergeht, sondern sofort wieder eingesetzt wird, um die Handlungsoptionen zu vergrößern (Kinderschaukeln und gleichzeitig die E-Mails auf dem Smartphone checken, Kochen und Waschen und Emails senden, Telefonieren und Nägel lackieren und SMS schreiben) – Multitasking nennt sich das neudeutsch. Diese Form der Gleichzeitigkeit bedingt ein Denken, welches essentiell für ein kapitalistisches Warenwirtschaftssystem ist: Die technisch gesteuerte Erhöhung der Produktionsgeschwindigkeit macht nur dann Sinn (und ist betriebswirtschaftlich abbildbar), sofern gleichzeitig die Steigerung der Distributions- und vor allem Konsumgeschwindigkeit erreicht wird. Marx hat ausgeführt, dass die Moderne in Hinblick auf Warenwerte kennzeichne, dass der physische Verschleiß durch den moralischen Verschleiß ersetzt wird: Handys werden heutzutage in den seltensten Fällen ausgetauscht, weil sie nicht mehr funktionieren, sondern weil sie nicht mehr das neueste Modell sind(übrigens verfügte ein durchschnittlicher deutscher Haushalt um 1900 400 verschiedene Objekte, im Jahr 2012 sind es 10.000).

Um diese Geisteshaltung zu erreichen ist es zwangsläufig, dass ein Bundesbürger täglich mit 3000 Werbebotschaften konfrontiert wird, jeder durchschnittliche Supermarkt ca. 10.000 Produkte anbietet, 30.000 neue Artikel allein im Bereich der sog. „schnell drehenden Konsumgüter“ pro Jahr auf den Markt drängen (90% sind nach einem halben Jahr wieder verschwunden) und 35.000 Markenbezeichnungen in Europa eingetragen werden. Die Auswirkungen auf das Denken sind fundamental: Wenn sich alles ständig verändern soll und wenn das neueste in kürzester Zeit wieder alt ist, dann wird die Annahme, dass einem Objekt bzw. einer Erfahrung ein dauerhafter Wert zukommt, permanent frustriert und deshalb kaum ausgebildet. Der Medientheoretiker Walter Lippman beschrieb diesen kollektiven Gemütszustand vor 80 Jahren mit dem Wort „Drift“ als zielloses inneres Dahintreiben (ein Zustand, der die Vorstellung vom „Shopping“ ziemlich genau trifft). Nur vor diesem Hintergrund wird der psychosoziale „Wert“ der Marke deutlich. Marke schafft – oder treffender: suggeriert – Kontingenz. Marke ist in der Lage Leuchttürme der Erwartungseinhaltung zu verkörpern, gerade in einem Bereich, der ansonsten für schnellstmöglichen Austausch steht. Denn Marken sind das Ergebnis von Leistungen, die von einem Unternehmen erfolgreich über längere Zeit erbracht wurden. Es entsteht ein kollektives Vor-Vertrauen, oder um es mit einem anderen Terminus zu bezeichnen ein Positives Vorurteil. Das Vorliegen eines Positiven Vorurteils unterscheidet die Marke vom Produkt. Produkte haben keine Vorurteile. Ein schnittiges Logo, eine Anmeldung beim Patentamt und eine kreative Werbestrategie kostet viel Geld, macht aber noch lange keine Marke. Man beachte die unglaubliche Leistung, wenn wildfremden Menschen bei Nennung eines (Marken-)Namens generationen- und länderübergreifend bestimmte gleichlautende Merkmale nennen … es ist zu bezweifeln, dass dies ebenso erfolgreich hinsichtlich der Werke bedeutender Künstler gelänge. Audi hat mit dem global eingesetzten Satz „Vorsprung durch Technik“ sicher mehr für die Beliebtheit der deutschen Sprache erreicht als das Goethe-Institut…

Wirtschaft bedeutet der Kampf der stärkeren Vorurteile

Wir sind es gewohnt, Vorurteile als etwas unerwünschtes und zutiefst bedauernswertes einzuordnen. Wenn der Zeitgeist dem aufgeklärten Menschen eines nicht erlaubt, dann ist es Vorurteile zu haben … das haben höchstens großflächig tätowierte Männer in Unterhemden und Jogginghosen. Ein Relikt der aufklärerischen 1970er Jahre, in denen das Vorurteil für Borniertheit und Rückständigkeit stand – dabei war seit den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts in der Soziologie stets zwischen positiven und negativen Vorurteilen unterschieden worden. Oder wie es Max Horkheimer im brummenden Brustton befand: „Ohne die Maschinerie der Vorurteile könnte einer nicht über die Straße gehen, geschweige denn einen Kunden bedienen.“ Für eine Marke aber ist das positive Vorurteil das alles entscheidende Charakteristikum im Wettbewerb. Klar gesagt: Marktwirtschaft ist der Wettbewerb um das stärkste positive Vorurteil. Vorurteile sind in markensoziologischer Perspektive keine unerwünschten Erscheinungen. Eine Marke erzeugt ein Kollektiv von Menschen, die ein Positives Vorurteil hinsichtlich einer Leistung teilen und die Kritikfähigkeit des Individuums reduziert. Die kontinuierliche Erwartungseinlösung schafft ein stabiles Treueverhältnis, das sich von Kundenseite durch einen regelmäßigen Kauf ausdrückt. Das bedeutet allerdings auch: Wenn eine Marke bestimmte Eigenschaften kollektiv verpolt hat, so ist sie in einem unumstößlichen Selbstverpflichtungszusammenhang gefangen. Denn das prüfende Moment beim Kaufakt geht auch bei kollektiven Strukturen niemals verloren. Handelt eine Marke nicht so wie gewohnt, so mögen wir es ihr noch einmal verzeihen, aber wenn es mehrfach auftritt – dann wenden wir uns ab. Eine Marke wie Penny darf deshalb nicht auf die Idee kommen, morgen schicke Regale aus dunklem Edelholz zu integrieren, weil es ästhetisch ansprechender ist … das wäre nicht „typisch“ Penny und ein Volkswagen-Manager sollte aus bestimmten Gründen nicht ernsthaft versuchen, ein Auto mit dem Namen Phaeton für den Preis eines Reihenhauses unter dem Namen Volks-Wagen anzubieten. Als Deutschlands älteste Diät-Marke „du darfst“ vor einiger Zeit auf die Idee kam, den gelernten Slogan „Ich will so bleiben wie ich bin“ … in „Fuck the Diet“ zu ändern, rebellierten nicht nur Kunden und Eltern, die den Gossenslang nun kurz vor dem Sandmännchen hören mussten. Soziologisch war klar, dass eine Marke die fast 40 Jahre lang gutbürgerlich daherkam, nicht plötzlich auftreten konnte wie eine überdrehte Mischung aus Bushido und den Amigos an der Supermarktkasse. Marke ist auch immer Dienst an der Kundschaft. Kernelemente der Marke sind nicht verhandelbar. Und wenn dann nur über lange Zeit: Die sorgfältige Umpositionierung der Marke AUDI vom Spießermobil zur Premiumlimousine für dynamische Wirtschaftslenker (und alle die sich dafür halten) über zwei Jahrzehnte macht dies deutlich.

Markensoziologisch folgt daraus nicht die Konsequenz, dass sich Marken nicht verändern dürften, sondern sich dass erfolgreiche und generationenübergreifende Marken nicht identisch, sondern stets selbstähnlich reproduzieren. Ein VW-Golf aus dem Jahr 1974 wäre heute nur noch bedingt verkehrstauglich und würde keine Zulassung erhalten, allerdings sind bestimmte Elemente der Markengestalt Golf auch noch im neuesten Modell zu finden. Selbstähnlichkeit, ein Begriff aus der Biologie bedeutet, die Fähigkeit eines lebenden Systems in sämtlichen Lebensäußerungen, die Grundstruktur zu reproduzieren. Einer Marke wie McDonalds gelingt dies weitgehend perfekt: Ein Unternehmen, das den „american way of life“ per se repräsentiert, agiert beispielsweise in muslimischen Ländern wie Indonesien mit verschleierten Kassiererinnen und Reis-Burgern.

Die Soziologie ist die Lehre von den Bündnissen, die Menschen untereinander, aber auch mit den Dingen eingehen. Wenn Menschen bereit sind, für eine Leistung Geld oder Zeit einzusetzen, so entstehen eben diese Bündnisse, die uns inzwischen weitaus mehr prägen als Literatur, Kunst oder sogar die Medien. Louis-Ferdinand Celine hatte viele dumme Dinge von sich gegeben … in einem hatte er recht als er schrieb: „… von einem bestimmten Zeitpunkt ab liest man keine Artikel mehr … nur noch Reklame … die sagt einem alles.“

Es greift zu kurz, Marken und Markenwerbung ausschließlich unter dem Gesichtspunkt einer kapitalistischen Manipulation zu verstehen. Viel eher sind sie eine Komponente im Rahmen einer offensichtlich Veränderung der Geisteshaltung, die zweifelsohne wirtschaftlich bedingt ist. Man muss sich dennoch fragen, was vom modernen Menschen übrig bliebe, sofern es nicht die Marke gäbe. Marken garantieren Kontinuität und Kohärenz – gerade wenn sich alles andere auflöst. In Zeiten ohne echte Bindungen können Marken – strukturell betrachtet und so traurig es erscheint – Heimat sein und gleichzeitig den massenhaften Wunsch nach Individualität an zahlreichen Bereichen realisieren. Das macht sie so erfolgreich über alle Kulturgrenzen hinweg.

Individualität als Zielgröße des 21. Jahrhunderts.

Im Kern substituiert die Massenware den Wunsch nach Individualität, denn Marken bieten das Material zur Individualisierung. Das Verhältnis zwischen Masse und Individuum gilt als Beschreibung von zwei Extremen. Die Masse würde den Einzelnen entpersonalisieren, aber als „Deutsche“, „Berliner“ oder „Rechte“ ist die Masse in uns. Nicht wir beherrschen die deutsche Sprache, sondern die deutsche Sprache herrscht in uns. In der Marke wird dieses Aspekt besonders augenscheinlich. Indem wir Produkte und Dienstleistungen mit Botschaftscharakter wählen, deren Inhalte möglichst weitläufig bekannt sind („Ich fahre Dacia und nicht Mercedes“ oder „Only fair trade“ oder „Ich kaufe nur lokal“), werden wir als individuelle Wesen wahrnehmbar. Aus den tausenden von Konsumentscheidungen entsteht die Person. Die individuelle Auswahl der Inhalte ist frei, denn niemand kann uns zwingen, die Farbe „blau“ zu mögen oder irgendeinen bestimmten Geschmack zu haben.

Wolfgang Joop, Juror bei Heidi Klum und Modedesigner, sagte: „Je mehr Marken, desto vielfältiger das Ich.“ Und so bleibt im Ergebnis, dass der Massenartikel nicht vereinheitlicht, sondern individualisiert. Marken sind das Recht auf Ungleichheit. Erst diese Logik erklärt den unaufhaltsamen Aufstieg der Marke in den vergangenen 100 Jahren. Oder wie es die Postbank in ihrer Werbung formuliert: „Unterm Strich zähl ich.“

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