Was bedeutet Selbstähnlichkeit?

Selbstähnlichkeit ist das Erfolgsprinzip aller lebenden Systeme und ein Schlüsselinhalt der Markensoziologie. Es ist das Gegenteil einer identischen Reproduktion, d. h. der Wiederholung des Immergleichen. Beispiel: Seit 1974 baut das Unternehmen Volkswagen einen Golf. Seit mehr als 40 Jahren rollt jedoch nicht der identische Golf vom Band, sondern die Marke hat  innerhalb einer Anpassung an die Erfordernisse der Zeit, bestimmte Aspekte integriert ohne aber essentielle Erfolgsbausteine der Marke aufzugeben – bspw. eine typische Form des Designs, der Sicherheitstechnik, der Innenausstattung. Auf diese Weise wird die Marke Golf niemals alt, ist dabei aber gleichzeitig im Auftritt niemals beliebig. Passt sich ein System unkontrolliert den Außensignalen an, so verliert es eben das, was es zur Marke macht: Einmaligkeit und damit Besonderheit. Die Marke Golf hat es durch ihre besondere Leistung in diesem Bereich geschafft, das heute von der “Kompaktwagenklasse” oftmals als “Golf-Klasse” gesprochen wird, d.h. in einem stark umkämpften Segment setzt der Golf den (Marken-)Maßstab. Dies ist allerdings nur der externe Eindruck ohne Analyse: Um eine vollständige Überprüfung durchzuführen, müsste zunächst das Erfolgsprofil bzw. der genetische Code der Marke Golf vorliegen. Es müsste z.B. Fragen nachgegangen werden, wie: Kann jemand, der sich im Jahre 1974 einen Golf leisten konnte, im Jahr 2015 einen VW Golf kaufen? Eine Überprüfung auf Selbstähnlichkeit umfasst sämtliche Leistungsbereiche des Unternehmens, die für die Kundschaft erfahrbar sind.

Selbstähnlichkeit bezeichnet die Fähigkeit eines Systems zur “typischen” Weiterentwicklung der eigenen Gestalt, der daraus resultierende Effekt der Wiedererkennung ist das Fundament erfolgreicher Marken. Die Markensoziologie nutzt gezielt grundlegende Erkenntnisse aus der Evolutions- und Systemtheorie. Selbstähnlichkeit ist das entscheidende Überlebensprinzip aller organischen Strukturen, die sich im Lebenskampf gegeneinander behaupten müssen. Ein Eichenblatt wird immer als solches erkennbar sein, unabhängig von dem einzelnen Blatt, welches der Mensch aus einem Blätterhaufen herausgegriffen hat. Es verfügt über eine spezifisch festgelegte Form, die eigenen Gesetzen folgt, daher ist es immer selbstähnlich. Trotzdem gibt es auf der Welt keine zwei identischen Eichenblätter, jedes ist einzigartig. Diesem Vorbild folgend soll der starke Markenorganismus eindeutig und individuell sein spezifisches Muster präsentieren, unabhängig von Zeitpunkt, Ort und Raum. Die Selbstähnlichkeit als evolutives Erfolgsprinzip der Natur lässt sich daher auf das soziale Lebewesen Marke übertragen: Eine starke Marke entwickelt sich dynamisch weiter, behält dabei aber stets ihre ureigene Spezifik. Sie wächst nach ihren eigenen, selbst aufgestellten Regeln, bleibt dadurch immer erkennbar. Sie folgt wie der Eichenbaum einem eigenen Lebens- und Reproduktionszyklus. Die individuelle Varianz, einschließlich aller dem Leben zugrunde liegenden biologischen Prozesse, ist Voraussetzung für das Prinzip der Selbstähnlichkeit. Marken, die langfristige Wertschöpfung zum Ziel haben, begreifen daher Markenführung als übergreifenden Prozess, der bei jeder strategischen Entscheidung die Marke als einen Gesamtkörper beachtet: Wird die Spezifik der Marke durch diese Entscheidung geschwächt oder gestärkt? Auf diese Weise lässt sich öffentliches Vertrauen aufbauen und verstetigen.

In der Kommunikation als einem Teilbereich von Marke ist Selbstähnlichkeit die entscheidende Vorraussetzung, um per spontaner Wiedererkennung Markenkraft zu nutzen und zu steigern. Gute Markenführung konzentriert sich und schaut nicht primär, was der Wettbewerb macht, sondern geht einen Weg, der auf der selbstähnlichen Fortführung der Markengenetik beruht. Gute Markenführung stellt ihre eigenen Leistungen heraus und ist dabei selbstähnlich. Wer diesen Weg berücksichtigt, differenziert sich automatisch vom Wettbewerb. Denn: Keinen Kunden interessiert die Marke an sich. Marken genügen sich nicht selbst. Auch die prestigeträchtigste Marke muss am Ende funktionieren, ansonsten bleibt der Kauf einmalig. NIKE-Schuhe sind nicht nur cool, sie müssen auch bequem sitzen und einige Monate halten … sonst nützt die beste Markenkommunikation langfristig gar nichts. Denn zum Schluss ist das einzige, was die Menschen interessiert: Die Leistung, die unter einem Namen erbracht wird. Die Werbung hat die Aufgabe diese Leistung möglichst eingängig und zur bisherigen Leistungshistorie selbstähnlich darzustellen, das Unternehmen hat parallel dazu die Aufgabe, die Leistung selbstähnlich jeden Tag neu zu erbringen. Das ist in Zeiten, in denen Werbung alles mögliche tut … außer zu verkaufen … bereits eine ganze Menge.

Nachtrag:

Besonders eingängig zeigt sich die Realisierung resonanzstärkende Kraft der Selbstähnlichkeit im Bereich der Werbung/Kommunikation am Beispiel der “Ritter Sport”-Werbung. So warb die Marke 1978 mit folgendem Motiv:

Ritter Sport Werbung 1978
Ritter Sport Werbung 1978

Gut 35 Jahre später steht wieder und allein das Produkt im Vordergrund:

Ritter Sport Werbung 2016
Ritter Sport Werbung 2016

Literatur: 

Brandmeyer, Klaus: Selbstähnliche Markenführung – Die Gestalt-Gemeinschaft und der Einzelne. In: Brandmeyer, Klaus/Deichsel, Alexander (Hrsg.): Jahrbuch Markentechnik 2000/2001. Frankfurt/M., 1999.

Peitgen, Heinz-Otto: Wie einfache Regeln den Zufall kontrollieren. In: Brandmeyer, Klaus/Deichsel, Alexander (Hrsg.): Jahrbuch Markentechnik 2000/2001. Frankfurt/M., 1999.

Binnig, Gerd: Die selbstähnliche Struktur der Evolution. In Brandmeyer, Klaus/Deichsel, Alexander (Hrsg.): Jahrbuch Markentechnik 1997/1998. Frankfurt/M., 1997.

Otte, Thomas: Marke als System. Ihre Eigenkräfte regeln den Markt. Hamburg, 1993.

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