Grundlagen der Markensoziologie – Die Marke langfristig profitabel führen.

Warum ordnen starke Marken Märkte zu Kundschaften, und zwar Jahrhunderte hindurch? Weil Marken Bündnisse sind, freiwillige Bündnisse und auch deshalb von Dauer. Was veranlasst den einzelnen Menschen, solchen Ordnungsrufen zu folgen? Weil er sich in solchen Wirtschaftskörpern seinen Wunsch nach Ungleichheit erfüllen kann. Und schließlich: Welche Bedingungen muss ein Unternehmen schaffen, um solche ungleichen Ordnungssysteme ökonomisch erfolgreich werden zu lassen? Indem es unverwechselbare Stilsysteme aufbaut. Drei Fragen, drei Antworten. Eine Einführung in die Markensoziologie.

I. Die Marke als Bündnis

Markensoziologie beschreibt die Fähigkeit, Marken als Wettbewerbswaffe profitabel und wertsichernd zu führen. Diese wertsichernde Profitabilität entsteht durch ein besonderes Verhältnis der förderlichen Zuneigung aller Menschen innerhalb des Wirtschaftskörpers einer Marke. Profit lässt sich auch kurzfristig, durch einmalige Verkaufshandlungen hervorrufen, aber Werte werden dadurch kaum gebildet. Es entsteht kein Dauergeschäft, d. h. keine kostenentlastende Wiederholung.

Eine markensoziologische Strategie sichert die Fähigkeit, langfristige Bündnisse herzustellen: Bündnisse zwischen Menschen, zwischen Menschen und Waren, zwischen Menschen und Waren und Preisen und Verkaufsarten und zahlreichen weiteren Komponenten. Die für das Tagesgeschäft zubereitete Strategie der Bündnisoptimierung machen die soziologischen Hintergründe deutlich, denn Soziologie ist die Lehre von den Bündnissen. Für den Markensoziologen ist der Markt ein Bündnisgefüge. Der Markenverantwortliche ist ein Bündnisbilder.

Ein Bündnis muss gewollt werden, sonst ist es nicht. Deshalb ist ein Bündnis immer so dauerhaft, wie der Wille der Menschen, die es wollen. Es gibt langfristige, unausweichliche Bündnisse – das Verhältnis zu unseren Eltern – und von uns selber zu steuernde und bewusst hervorgebrachte: mein Bündnis mit einem Börsenpapier. Das eine ist ein Bündnis meines ganzen Wesens, ein Bündnis, in dem ich als ganzer Mensch stehe, schicksalhaft. Das andere habe ich selber herbeigeführt, als Experte, es unterliegt meiner Entscheidung. Das eine ist Pflicht, das andere Kür. Dieser Unterschied macht die Unterscheidung zwischen dem dauerhaften Markenbündnis und dem flüchtigen Produktkontakt erkennbar.

Wir leben diesen Unterschied bereits in den Gemeinschaften unserer Heimat und den Gesellschaften unserer juristisch herbeigeführten Vereinigungen. Der Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft ist keine terminologische Finesse, er beschreibt vielmehr zwei unterschiedliche Bündnisarten. Gemeinschaften sind Kollektive, die durch Geschichte gewachsen sind, nur ganz allmählich sich wandeln und durch Sitten und Gewohnheiten die Seele jedes Menschen zutiefst prägen, von ihr Besitz ergreifen, wie wir zutreffend sagen. Unsere Sitten füttern uns, so dass wir Vor-Lieben in uns aufbauen. Eine Vorliebe ist noch stärker als eine Liebe. Vor allem ist sie dauerhafter. Der Wille der Sitte gilt und unserer eigener Wille erfüllt diesen „sozialen“ Willen gerne. Mehr noch: Der individuelle Wille wird durch den sozialen Willen angeregt und entfaltet.

So erwachsen durch den geteilten, ähnlich gerichteten Willen vieler Menschen bestimmte kulturelle Vorgänge und örtliche Rituale. Die Gewohnheiten unserer eigenen Kultur beispielsweise haben so von uns Besitz ergriffen, dass wir sie ununterbrochen ausstrahlen. Daher werden wir immer wenn wir in anderen Gewohnheiten bzw. Kulturen auftauchen, ob als Tourist oder Geschäftsreisender, sogleich als Ungleicher erkannt: An unserer Kleidung, unserem Auftreten, unserer Sprache und und und. Was für den Menschen gilt, gilt auch für die Dinge, die er produziert: Zu den unverzichtbaren Komponenten unserer bunten Waren-Kultur gehören die starken Marken. Globale Ikonen wie IKEA, Coca-Cola, Rolex, Mercedes, Armani sind immer auch Botschafter ihrer Heimatkulturen.

Der Gegensatz zu einem gesellschaftlichen Bündnis wird nun deutlich. Ich stelle es selber her, ich bin der Initiator, mein Wille entscheidet. Gesellschaften gehen auf Gründer zurück, sie sind zweckhafte Sozialkreationen, sie sind die ausorganisierten Einfälle unternehmerischer Einzelner. Das gesellschaftliche Kollektiv wird durch Gesetze geregelt. Ganz im Unterschied zur geschichtsgetränkten Sitte, die durch Überlieferung und Tradition weiterbesteht, gilt für die Gesellschaften das Recht als Steuerungsinstrument. Deshalb sprechen wir auch vom Gesellschaftsrecht bei Firmen. Eine Aktien-Gemeinschaft ist unvorstellbar.

Die Haltungen der Menschen innerhalb dieser beiden Kollektive zu Menschen und Dingen ist äußerst gegensätzlich. Während in einer Gemeinschaft alle individuell Getrennten letztlich verbunden sind, bleiben die nur rechtlich Verbundenen einer Gesellschaft letztlich eher getrennt. Vertragsverhältnisse kann man kündigen, Blutsbande jedoch nicht. Deshalb leben Gemeinschaften vor allem durch ihre geteilte Vergangenheit, Gesellschaften jedoch von ihrer Zukunft. In dem einen Bündniszusammenhang sind wir der Bauer, im anderen der Schmied. Der Bauer lebt im Gegebenen, wartet im Sich-Wiederholenden, führt es rückkoppelnd fort. Der Schmied dagegen schmiedet das Neue, gemäß seinem Genius, ein Ingenieur.

Beide Bündnisformen regeln auch unseren Umgang mit der Ware: als Marke und Produkt. Zum Produkt haben wir ein gesellschaftliches Verhältnis. Wir sind die hellwach Prüfenden, wir sind urteilende homines oeconomici, testen bei jeder Nutzung Qualität, Service und Preis. Wir sind das Subjekt, der Souverän, der Entscheider. Bei der Marke ist es genau entgegengesetzt. Sie ist Kraft einer Wertschöpfungsgemeinschaft. Über Jahre hindurch hat sich gute Erfahrung mit allen Lebensäußerungen des Unternehmens in einer Kundschaft kumuliert. Die Prüfnervosität des Käufers hat sich gelegt, öffentliches Vertrauen hat sich gebildet, die Marke ist Subjekt geworden, wir das Objekt.

Eine Neigungsbereitschaft zu einer Marke hat uns erfasst, wir haben ein positives Vorurteil der Firma gegenüber entwickelt. Die bewusste Unnachdenklichkeit gegenüber der Leistung hat sich in uns breit gemacht – Markenkraft ist entstanden.

II. Die Ungleichheit als Grundlage

Lebendiges ist immer einmalig – und daher ungleich. Es gibt keine zwei identischen Blätter an einer Eiche, nicht zwei gleiche Katzen, keine zwei identischen Stimmen, keine zwei identischen Wolken. Die kompositorische Kraft des Universums realisiert sich in immer einmaliger Gestalt.

Der Wirtschaftskörper einer Wertschöpfungs-Gemeinschaft, der Wirtschaftskörper einer Marke ist in eben diesem Sinne das Ergebnis eines solchen Willens zur eigenen Komposition. Der Wille zur eigenen Komposition führt zu immer mehr Ungleichheit. Deshalb gibt es zwar überall die Gewohnheit zu schlafen, zu essen, sich zu schminken und die Freizeit zu verbringen, die Kinder zu erziehen und die Toten zu ehren. Aber sie unterscheiden sich alle: Sie sind immer von ganz anderer Gestalt. Ein katholischer Gottesdienst ist nicht der eines Moslems, der Stephansdom ist nicht der Hamburger Michel, die Chansons der Juliette Greco nicht die Songs von Coldplay.

So ist Ferrari nicht TESLA und die Wranglers keine Levi’s. Die Marken regeln Details immer irgendwie so, dass man sie sogleich als von dort und nicht von hier, also so geartet und eben nicht austauschbar erkennt. Gewohnheiten lenken die Menschen, aber jede einzelne ist anders gestaltet. Die Freude an der Ungleichheit wird zum Willen zur Ungleichheit. Am Gestalthaften erkennen sich die Menschen als ähnlich und als fremd, als Freunde oder Feinde. Und also betonen sie ihre Ungleichheit. Jeder hat das Recht zur Ungleichheit. Hier zeigt sich das Dramatischste an jedem Bündnis – seine gestalthafte Individualität. Die Muster binden uns zusammen und grenzen uns ab. Alles ist ungleich. Und eben diese Gegensätze sind das Leben. So gleich die Funktionen der Sitten sind – so ungleich ist ihre jeweilige Gestalt.

Dieser Wille zur Ungleichheit ist für den Markenführer der wichtigste Sachverhalt überhaupt. Das Produkt in seiner mengenartigen Austauschbarkeit veranschaulicht die Gleichheit, denn jedes Produkt einer Serie gleicht dem anderen und auch untereinander gleichen sie sich an. Es ist die Funktionalität, die die Produkte auswechselbar macht. Der Wert, der die geringste Windschlüpfrigkeit garantiert würde es erzwingen, dass alle Autos gleich aussehen. Allein die Marke als Gestalt muss mit Erfindungskunst und Einfallsreichtum alles das herausarbeiten, was zur Besonderheit taugt und es zur eigenen Gestalt bündeln. Die Unverwechselbarkeit im Detail wird dann zum einmaligen Gewohnheitsraum, der Bündnisraum Marke zur besonderen Komposition.

Der Wunsch der Menschen nach Ungleichheit ist der anthropologische Motor, der die Suche nach der Markenleistung im Markt antreibt. Der Wille zur eigenen Gestalt der Marke muss daher den Markenverantwortlichen im Tagesgeschäft lenken. Während die erste Regelung sein muss: Schaffe Markenräume als Gewohnheitsräume, präzisiert der zweite Aspekt: Schaffe sie als individuelle Gestalträume: Wie aber sollen sie ausgestaltet werden? Wie wird ihre Ordnungskraft erhalten?

III. (Marken-) Führung durch Stilbewusstsein

Das wichtige Führungsmittel im Markt ist es, unterschiedliche Stilsysteme herauszubilden. Führung durch Stil heißt: Führung durch Details. Wenn der Polizeipräsident von New York seine Stadt wieder sicherer gemacht hat, so hat er das durch stilistische Strenge erreicht. Wer seine Bierdose wegwirft, wird bestraft, wer zu schnell fährt, aus seinem Auto gezerrt und wie ein Schwerverbrecher behandelt.

Das Prinzip der Führung durch Stil lautet: Null Toleranz bei Gestaltfragen. Die Römer nannten das : principia obstate – Wehret den Anfängen! Die amerikanischen Kommunalpolitiker nennen es „the theory of broken windows“. Lass nicht die geringste Beschädigung zu, denn wenn du in einer Straße eine zerbrochene Scheibe erlaubst, sind es in der nächsten Woche schon zwei, dann fünf und ein halbes Jahr danach kannst du nicht mehr heil durch den Stadtteil gehen. Das Prinzip, welches hier angewandt wird, ist ein typisch markensoziologisches: Achte auf deine Gestaltdichte! Halte deine Gestalt diszipliniert, dann wirst du Anhänglichkeit schaffen. Government by style ist Gestalt-Engineering.

So wie Baustile uns fesseln oder ein Musikstil uns lange Jahre oder über Generationen bindet, so auch der Stil einer Marke. Ein weitverbreiteter Irrtum besteht darin, zu meinen, die Menschen ließen sich durch Argumente beeindrucken oder gar auf Dauer führen. Diese Illusion aufklärerischer Rationalität zeigt sich auch in der Markenbindung. Argumente sind wichtig, aber auf Dauer nicht tragfähig. Wir suchen ein Bett und ein Hotel – sicher. Aber dann fängt es an: welches Hotel? Wir brauchen ein Auto und jedes hat gute Argumente für sich. Aber eben deshalb ist die Beziehung flüchtig – sie hält so lange, bis ein besseres Argument auftaucht. Treue entsteht so nicht.

Ein anderer Sachverhalt ist der eigentlich steuernde: die Gestalt. Damit ist nicht Design gemeint, sondern Stimmigkeit. Stimmigkeit der Erfahrung. Der Mensch ist ununterbrochen tätig, Gestalturteile über Stimmigkeiten hervorzubringen. Das passt zusammen, dies nicht, dies war früher aufeinander abgestimmt, ist jetzt auseinandergerissen. Mergers&Acquisitions liefert ständig Beispiele solcher Un-Stimmigkeiten. Diese Urteilskraft ist nicht argumentativ. Sie ist aber auch nicht das, was irrtümlich immer als emotional bezeichnet wird. Ein Gestalturteil ist zwar in der Regel rasch gefällt, aber immer ist der Geist des Urteilenden unaufhebbar beteiligt. Stil ist Magnetismus der Gestalt. Niemand sieht ihn und doch ordnet er alles.

Führen durch Stil ist wichtig im Überlebenskampf. So wie sich die Einzelelemente der verschiedenen Gestalten, der Kundschaften am Stil erkennen, und sei es nur am Tonfall einer Stimme oder an der Art, eine Naht zu nähen, so entscheidet auch im Kampf um die Gestaltsicherung vor allem der Stil. In Bezug auf eine Leistung stilvoll zu handeln heißt daher: auf alle Details achten und diese so verwirklichen, dass die gewollte Besonderheit stimmig realisiert wird. Stilkontrolle ist daher das allerwichtigste. Ein Vorstandsvorsitzender kann sich nicht um die einzelnen Arbeitsvorgänge im Unternehmen kümmern. Seine Arbeit besteht darin, die stilistische Oberfläche der Marke gestaltdicht zu halten. Der Markenverantwortliche ist daher ein Sozialstilist.

Durch die Wiederholungen der Details zeigt die Sitte ihre Kraft. Sitten sind Stilkompositionen aus Hunderten von Einzelvorgängen – Bewegungen, Klängen, Gerüchen. Gemeinschaften werden energetisch immer wieder aufgeladen durch die Details eines Brauchs: die Gesten des Priesters, das Kleid der Braut, die Musik der Band und der Duft der Speisen – alles unverwechselbar und hunderttausendfach wiederholt – dann stimmt die Welt und wir fühlen uns wohl, es ist gewohnt, die Gewohnheit als Wohnzimmer der Seele. Es ist nun völlig klar: Hier hinein gehören die Marken

Zwei grundlegende Prinzipien zur Gestaltführung

Erstens muss die Markengestalt selber ihre Gestaltstrenge beibehalten. Wenn auf ihrer Außenhaut alle Details so stimmig zueinander gehalten worden sind, dass im Publikum immer wieder der Eindruck von einem “Ding” entsteht – einem zusammenhängenden, nicht einem zusammengesetzten. Stilstrenge kostet nicht viel Geld, aber viel Aufmerksamkeit und Sinn für Details. Denn je strenger hier die Gestalt geführt wird, desto mehr ermöglicht sie es, Eigenbewusstsein zu erzeugen. Bewusstsein der eigenen Gestaltbesonderheit. Das aber verursacht Stolz. Und wenn erst einmal Stolz in der Kundschaft entfacht ist, beginnt die Markentreue.

Und zweitens: Der Stil muss leistungsernst sein, um dauerhaft zu wirken. Nur dann löst er Eigenenergie im umliegenden Menschenfeld aus. Nur dann zündet er im Publikum den Willen, diese Stilstrenge selbsttätig weiterzuverbreiten.

Das geschieht im Markt durch Qualität. Qualität im weitesten Sinne, Ernsthaftigkeit des hergestellten Gutes und der Art seines Verkaufs: Leistungsernst. Leistungsernst ist die Durchsichtigkeit aller kaufmännischen Vorgänge – im Produkt ebenso wie im Vertrieb, im Konditionensystem ebenso wie in der Preispolitik. Der Leistungsernst ist die Grundlage für das Begründbare im öffentlichen Vertrauen, welches einen Markenkörper charakterisiert. Der reine Nutzen ist treulos. Erst als Stil produziert Nutzen Anhänglichkeit.

Damit hat der Kaufmann auch den dritten Teil seines Werkes in der Hand: nach dem Aufbau eines Markenkörpers und dessen individueller Herausstellung folgt die Sicherung dieses Systems durch hartnäckige Stilstrenge im Tagesgeschäft. Marke ist stilistisch organisierter Leistungsernst. 

Cover des Buches "Grundlagen der Markensoziologie. Die sozialen Prinzipien von Markenbildung und -führung in Theorie und Praxis.
Das Standardwerk: Grundlagen der Markensoziologie. Springer Gabler 2018. Von Alexander Deichsel, Oliver Errichiello und Arnd Zschiesche. Dieser Text ist dem Buch entnommen.

Hintergrund-Info: Markensoziologie

Weitere Artikel zur wissenschaftlichen Markenführung und zur Markensoziologie finden sie auf dem “Markenradar” unter dem entsprechenden Stichwort, z.B. “Grundlage jeder Marke ist auch 2020 ihre Leistung”. Mehr zu Professor Dr. Alexander Deichsel, dem Begründer der Markensoziologie finden Sie hier.

Alexander Deichsel unterrichtet an der Universität Hamburg (2019).

Mehr Informationen zu Professor Dr. Oliver Errichiello und Dr. Arnd Zschiesche.

3. Markensoziologisches Privatissime am Büro für Markenentwicklung in Hamburg

Das Büro für Markenentwicklung lud ein zum 3. Markensoziologischen Privatissime und der Andrang brachte das kleine Hinter-“Hofbüro Eppendorf” in der Schottmüllerstrasse an seine räumliche Kapazitätsgrenze. Über dreißig alte und neue Bekannte von nah und deutlich weiter weg, versammelten sich am 12. Dezember 2019, um gemeinsam bei Rotwein (Medinet á la Hans Domizlaff) und Salzbrezeln über markensoziologische Problemstellungen zu denken und die Referenten des Abends zu erleben.

Vor dem offiziellen Beginn verlaß der Soziologe und ehemalige Lehrbeauftragte an der Universität Hamburg, Dr. Rainer Waßner einen Brief aus dem Nachlass des emigrierten, deutsch-US-amerikanischen Soziologen Rudolf Heberle (1896-1991) an Alexander Deichsel aus dem Dezember 1981. Der gebürtige Lübecker Heberle war in Kiel Student von Ferdinand Tönnies und heiratete später dessen Tochter, Franziska Tönnies. In dem handschriftlichen Brief dankt er Alexander Deichsel u.a. für seinen Einsatz um den Nachdruck der Tönnies-Schrift “Einführung in die Soziologie” (Enke-Verlag, Stuttgart) und erste Vorbereitungen, die zu einer Tönnies-Werksausgabe führen sollten. Die Gründung der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle an der Universität Hamburg im Sommersemester 1982 war der nächste offizielle Schritt, um die Erkenntnisse von Tönnies für die Gegenwart zu nutzen.

Über den örtlichen Umgang mit globaler Nachrichtenflut

Der Redakteur, Moderator, Autor und nicht zuletzt Markensoziologe Dr. Martin Busch war Impulsgeber des Abends. Das Thema des Radio-Bremen-Profis: “Selbstähnlichkeit in der Nachrichtenflut – Markensoziologische Bemerkungen zur Ordnung im vermeintlichen Chaos”. Von Original-Tonbeiträgen”live” unterstützt, zeigte er die tagtägliche Leistung von Hörfunk-Journalisten, die aus der 24/7-Nachrichtenflut “Ihre Ortsmarke” bzw. deren spezifische Interessen herausfiltern und erspüren müssen. Wie wird Selbstähnlichkeit aus Sicht des lokalen Senders sichergestellt, ist dies überhaupt möglich? Es fand eine Diskussion über die Rolle des Radios vor Ort, Stichwort “Glokalisierung”, aber auch der allgemeinen Zukunft dieses Mediums im voranschreitenden Digitalzeitalter statt. Welche Antworten hat die “Marke Hörfunk”, jenes Medium, welches 2023 bereits seinen 100. Geburtstag feiert auf die Digitalisierung? Wie soll das Radio zukünftig damit umgehen, wenn Podcasts und youtube-Videos die maßgeblichen neuen, “gelernten” Informationsquellen für nachfolgende Generationen sind?

Je mehr Globalisierung umso spezifischer der Ort

Im Anschluss klärte Professor Deichsel, Präsident der Ferdinand-Tönnies Gesellschaft Kiel, die Zuhörer über die Rolle von Herkunft, der Spezifik des Ortes in einer (scheinbar) globalisierten Welt auf: Eine Kugel ist die einzige geometrische Form, die über keinen definierten Mittelpunkt verfügt. Daher kann jeder Mensch an jedem Ort auf dieser Welt-Kugel jederzeit von sich behaupten: Hier, wo ich stehe, ist der Mittelpunkt der Welt. Und er oder sie hat damit immer recht.

Die Folgen dieses individuellen Mittelpunkt-Bewusstseins sind kontinuierlich spürbar und omnipräsent, ein kurzer Blick in die aktuelle Schlagzeilenlage genügt. Ob Donald Trump, Brexit oder Flüchtlingskrise: Überall ist die beständige Spannung zwischen der individuellen Moral des Ortes und einer global-übergeordneten Ethik spürbar. Exakt das, was Tönnies unter dem Begriff der “Öffentlichen Meinung” zusammenfasste: Eine quasi richterliche Instanz, die unparteiisch über den unzählbaren lokalen Welt-Geschehnissen und Gemeinschaften thront und sie unnachgiebig nach ihren allgemeingültigen bzw. ideeellen Maßstäben bewertet – und bei Verstößen streng verurteilt (Ferdinand Tönnies: Kritik der Öffentlichen Meinung, Berlin 1922/Erstausgabe).

Die beiden Gastgeber Professor Dr. Oliver Errichiello und Dr. Arnd Zschiesche vom Büro für Markenentwicklung schlossen den Abend mit einem großen Dank an die wesenwillig versammelte, stetig anwachsende Hamburger Denk-Gemeinschaft. Abgerundet wurde dies von der Überreichung von Original Lübecker Marzipanherzen und der “Original Markensoziologie-Grundlagenschrift” für den engagierten Bremer Gastreferenten.

Von links nach rechts: Martin Busch, Arnd Zschiesche, Alexander Deichsel, Oliver Errichiello. Photo: Yuri Borovskikh.

Alexander Deichsel erklärt seinen Zuhörern in gewohnter Art die Welt (und den Ort). Photo: Yuri Borovskikh.

X. Internationales Tönnies Symposium in Kiel: Ferdinand Tönnies als Wirtschaftsberater

Das X. Internationale Tönnies Symposium fand vom 5. bis 7. September 2019 an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel statt. In den Sälen des Audimax der Hochschule richtete die Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft die Veranstaltung aus. Ein besonderer Anlass war durch das Erscheinen von “Gemeinschaft und Gesellschaft” – dem berühmten Hauptwerk des Begründers der Soziologie in Deutschland – als Band 2 der Tönnies-Gesamtausgabe gegeben. Unter dem Titel der öffentlichen Veranstaltung “Gemeinschaft und Gesellschaft: Gemeinwohl und Eigeninteresse heute” ging es den teilnehmenden Wissenschaftlern darum, dem Denken des Gelehrten aus Oldenswort vor dem Hintergrund aktueller sozialer Herausforderungen und Krisen nachzuspüren. Außerdem wurde der inhaltlich-thematische Reichtum des Klassikers im Kontext der Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts beleuchtet. Die internationalen Tönnies-Experten sprachen zu diversen Aspekten seines Werks, das dreitägige Programm kann hier nachgelesen werden.

Tönnies Lehre ist so bunt wie aktuell.
Ferdinand Tönnies als Wirtschaftsberater

Unter der Überschrift “Ferdinand Tönnies als Wirtschaftsberater” fand am 7. September im Hörsaal H des Audimax ein mehrstündiges Panel statt, bei dem das Büro für Markenentwicklung mit drei Referenten am Start war: Professor Alexander Deichsel, in Doppelfunktion als Präsident der Ferdinand Tönnies Gesellschaft und Wissenschaftlicher Associate des Büro für Markenentwicklung, Professor Dr. Oliver Errichiello und Dr. Arnd Zschiesche als Geschäftsführer des Büro für Markenentwicklung in Hamburg. Die Themenbreite des Panels zeigt das Spektrum des Begründers der deutschen Soziologie allein im Bereich Wirtschaft: 

  • Prof. Dr. Oliver Errichiello: Einsamkeit als Bündniskraft: Die gemeinschaftliche Funktion der Marke in einer haltlosen Welt

  • Prof. Dr. Hartmut Hecht: Tönnies’ Leibniz Lektüre

  • Dr. Arnd Zschiesche: Die Soziologie ins Leben stellen: Tönnies als Sozioökonom und Markenversteher

  • Dr. Axel Schroeder: Markenbildung im Kapitalmarkt

  • Dr. Martin Busch: Selbstähnlichkeit in der Nachrichtenflut – Markentechnische Bemerkungen zur Ordnung im vermeintlichen Chaos

  • Dr. Rainer Waßner: „Keine Feier ohne Meyer!“ Aufstieg und Fall eines Berliner Marktgiganten

  • Prof. Dr. Alexander Deichsel: Marke verkauft Moral zu ethischen Bedingungen

Leibniz und Tönnies im “Austausch”

Es kam zu ausgiebigen Diskussionen, weit über das Thema Wirtschaft hinaus. So z.B. in Bezug auf das wissenschaftliche Verhältnis von Gottfried Wilhelm Leibniz und Tönnies, welches Hartmut Hecht anhand eines Briefes von Leibniz an Thomas Hobbes aus dem Jahre 1670 darstellt.  Einen Brief, welchen Ferdinand Tönnies 200 Jahre später in der British Library entdeckt, kommentiert und 1887 mit seinen Kommentaren publiziert. Hecht leitet aus Tönnies Text-Anmerkungen die These ab, dass sich trotz des zeitlichen Abstands, die Begründung von zwei unterschiedlichen empirischer Disziplinen wie der Physik und der Soziologie nicht nur gleicht, sondern auf einem gemeinsamen geistigen Ursprung beruht.

Die Marke als soziales phänomen erkennen

Aber gemäß dem Oberthema wurde auch die Rolle der Marke als Wirtschaftsfaktor im zunehmend digitalisierten 21. Jahrhundert  intensiv beleuchtet und diskutiert. Nicht zuletzt die plakative Tatsache, dass medial oft von Apple-Jüngern gesprochen wird, viele Marken mit umfassenden Mitteln versuchen sog. “Brand Communities” zu installieren, zeigt wie zeitlos die Erkenntnisse von Tönnies über die starken (wesenwilligen) Anziehungskräfte von Systemen sind: Die Marke wird deutlich, als ein primär soziales Phänomen, welches betriebswirtschaftliche Auswirkungen hat. Wer sie als Verantwortlicher nicht als soziales Phänomen begreift, der kann eine Marken-Gestalt nicht wert-bewusst und somit nicht verantwortungs-bewusst führen. Es gilt: Je stärker der gemeinschaftliche Grad einer Marke, je dichter ihr positives Vorurteil in der Kundschaft (und Öffentlichkeit), umso höher ihre soziale Attraktivität im Markt.  

Professor Alexander Deichsel und Professor Oliver Errichiello bei der Begrüßung im Hörsaal H.
Dr. Hartmut Hecht im Gespräch mit Alexander Deichsel.
Dr. Arnd Zschiesche referiert über Tönnies und seinen Beitrag zur Markenanalytik.
Dr. Martin Busch, Redakteur bei Radio Bremen, spricht über die Herausforderung Selbstähnlichkeit in den täglichen Nachrichten-Strom zu bringen.

 

Warum sozialer Wille Grundlage jeder Markenbildung ist

Ob Start-Up von 2019 oder Traditionshaus von 1879: Bei der Analyse von Marken ist ein häufig wiederkehrendes Element, dass der Urkern der Marke dem Einzelwillen eines Gründers bzw. speziell heutzutage mehrerer Gründer(innen) entspringt. Ein typischer Start: Eine Person hat eine Idee, diese Idee oder dieses Problem ließ den (armen) Menschen nicht mehr los, bis er eine Lösung gefunden hat. Ob es die Idee war, Öl mit Wasser zu verbinden (NIVEA), Lebensmittel luftdicht zu verschließen (Tupperware), Schuhe mit Löchern zwecks Belüftung zu versehen (Geox). Oder “nur” das kleine aber eigene Café im Viertel… Am Anfang steht immer eine Vorstellung, ein Traum. Und der individuelle Wille, diese eigene Idee in die Tat umzusetzen.

Der Wille, die Idee braucht Anhänger

Oftmals findet die Durchsetzung der eigenen Marken-Idee gegen erhebliche Widerstände von außen statt. Denn eines wird in der analytischen Betrachtung schnell offensichtlich: Ohne die unbändige Kraft des menschlichen Einzelwillens ist die kunterbunte Marken-Vielfalt auf der Erde nicht zu erklären: Wenn ein Auto wirklich nur wichtig wäre, um von A nach B zu kommen, würden nicht hunderte unterschiedlicher Automarken existieren.

Um es mit der eigenen Idee auch zu wirtschaftlichem Erfolg zu bringen, benötigt es allerdings mehr als nur den unbedingten Willen und seine leistungsstarke Umsetzung: Die Idee braucht Käufer, die im besten Falle zu langfristigen Anhängern der Leistung werden. Aus dem individuellen Willen einzelner muss der soziale Wille vieler werden, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein, anders formuliert: Eine Kundschaft muss entstehen.

Jede Form sozialer Verbundenheit entsteht nur durch den Willen einzelner Individuen zu dieser Verbundenheit. Alles soziale Handeln wird davon gelenkt. Verfügt die aus dem vereinigten Willen der Beteiligten entstandene Verbindung über ein attraktives Angebot, entwickelt sie Anziehungskraft für weitere Individuen. Bezogen auf die Marke bedeutet dies, dass die Unternehmensleistung eine Wirkung erzielt und viele Menschen anzieht. Es entsteht Begehrlichkeit, die in der Folge zum stetig erhöhten Abverkauf des Produkts führt. Der Warenwert wird von den Käufern deutlich höher eingeschätzt als der von ihnen investierte Geldwert.

Der Wille stabilisiert das (Marken-) System

Wird die Erwartungshaltung gegenüber einem Produkt bei mehrmaligem Kauf beständig erfüllt, bildet sich ein Energiekreislauf innerhalb des Systems: „Wenn sich die Wünsche der einen und die Leistungen der anderen Seite entsprechen, bildet sich ein rückkoppelndes System aus positiven Willensbeziehungen. Viele einzelne Willen verbinden sich zu einer Einheit, die alle Beteiligten in die Pflicht nimmt – sozialer Wille ist entstanden” (Deichsel, Markensoziologie, 2006, S. 13). Das ist der wahre ROI (Return on Invest).

Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie – das Standardwerk als Lesetipp: Grundlagen der Markensoziologie, komplett überarbeitete Neuauflage, 2017

Auf diese Weise stabilisiert der Wille nicht nur die Firma selbst. Die Marke nimmt alle ihre Anhänger als kritische Kontrollinstanz und kostenlose Multiplikatoren der eigenen Botschaft in die Verantwortung. Eine wechselseitige Verantwortung: Die Anhänger geben ihre guten Erfahrungen mit der Markenleistung gerne weiter. Sie entwickeln aber ebenso ein feines Gespür dafür, wenn ein neues Produkt nicht zu ihrer Marke passt. Gerade im Digitalzeitalter besitzen sie viele Möglichkeiten, ihren Marken-Unmut wirksam kund zu tun…

Wichtigste Zielgruppe: Die eigene Kundschaft

So bindet das Unternehmen die Kundschaft als Stabilisator in das System ein. Marke ist sozialer Wille und bündelt diese Willenskraft, denn nur durch die Bejahung der Kundschaft erhält sie ihre Existenzberechtigung. Dies macht deutlich, warum alle strategischen Maßnahmen die Marken-Kundschaft im Fokus haben müssen: Sie ist Träger des Wissen um die Marke und sie besitzt den Willen zur Marke…

Publizieren und arbeiten seit über 20 Jahren zum Thema: Die Markensoziologen Arnd Zschiesche und Oliver Errichiello, Geschäftsführer des Büro für Markenentwicklung Hamburg. Lehre u.a. an der Hochschule Luzern Wirtschaft und Hochschule Mittweida. Aktuelles Buch: Marke statt Meinung, GABAL Verlag

Gastbeitrag: “6. Tafelrunde der Marke” am 22. November 2018 – Digitale Markenführung

Liebe Freunde der Marke,

Wir blicken zurück auf einen einmaligen Markenabend im Hotel Montana im vergangenen Mai mit Prof. Dr. Alexander Deichsel, dem Begründer der Markensoziologie, der eigens für unsere Tafelrunde der Marke nach Luzern gereist war. Nochmals herzlichen Dank an alle Teilnehmenden.

Gleichzeitig schauen wir voraus und freuen uns auf unsere nächste Tafelrunde der Marke. Mit von der Partie sind wiederum unseren Markenprofis «in Residence»: Dr. Arnd Zschiesche und Professor Dr. Oliver Errichiello. Die beiden sind Gründer und seit 12 Jahren Geschäftsführer des Büro für Markenentwicklung in Hamburg, einer Instanz für die strategische Markenführung auf wissenschaftlicher Basis im deutschsprachigen Raum. Neben ihrer Beratungstätigkeit sind die beiden seit 2012 als Dozenten für Markensoziologie und Brandmanagement an der Hochschule Luzern Wirtschaft sowie der EMBA in Hamburg tätig (Europäische Medien- und Business-Akademie). Gemeinsam hat das Autorenduo bisher 15 Fach- und Sachbücher publiziert, ihr aktuelles Buch, erschienen im Oktober 2018 trägt den Titel “Marke statt Meinung. Die Gesetze der Markenführung in 50 Antworten” (GABAL Verlag, 2018).

Hier die wichtigsten Eckdaten für die sechste Ausgabe der Tafelrunde der Marke:

Thema:
– Digitale Markenführung
Datum:
– Donnerstag, 22. November 2018
Zeit:
– 17:30 Uhr Apéro / 18:00 Uhr Start Referat / 20:00 Nachtessen
Ort:
– Zunfthaus Pfistern, Kornmarkt 4, 6004 Luzern, Zunftsaal im 2. OG
Kosten:
– Wie bisher CHF 120.- inkl. Begrüßungs-Apéro

Anmeldung:
– Gerade rechtzeitig und passend für unser Thema „Digitale Markenführung“ haben wir auch unsere Anmeldemodalitäten weiter vereinfacht.
– Hier tragt Ihr ganz bequem An-/Abmeldung & Essenspräferenz ein: https://doodle.com/poll/zkz2z73f8kbrm94m

– Wichtig: Begrenzte Teilnehmerzahl bei 32 Personen maximal. Die Anmeldungen werden nach Eingang berücksichtigt.

Markenfreunde aus eurem Umfeld:
– Markenaffine Freunde aus Eurem Umfeld sind natürlich ebenfalls herzlich willkommen. Einfach die Einladung weiterleiten.

Wir freuen uns auf Eure Anmeldung und stehen für Fragen gerne zur Verfügung.

Nun wünschen wir allen eine schöne Herbstzeit und freuen uns bereits jetzt auf einen weiteren inspirierenden Abend mit Euch.

Liebe Grüsse,
Eure Tafelritter der Marke
Eddy, Peter & Reto

Impressionen der Zusammenkunft im ART DECO Hotel Montana Luzern:

Das Organisationsteam mit den Referenten des Abends.

Unsere drei Gäste der Tafelrunde am 24. Mai 2018.